Traumatologie in Johannesburg – Spital mal ganz anders

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Ein Geruch von Urin, Blut, Schweiss und Alkohol liegt in der Luft. Reihenweise besetzte Betten, Liegen und Stühle in den Behandlungszimmern, davor und in den Gängen. Zahlreiche Patienten, die erst noch auf den Entscheid warten müssen, ob sie überhaupt behandelt werden oder zuerst einen anderen Arzt aufsuchen müssen. Mittendrin zwei «Interns», in der Schweiz «Assistenzärzte» genannt, und 1-2 Medizinstudenten.

Seit knapp einer Woche arbeite ich im Chris Hani Baragwanath Academic Hospital (CHBAH) in Johannesburg, Südafrika, dem drittgrössten Spital der Welt. In den wenigen Tagen habe ich mich bereits an gewisse Umstände gewöhnt. Von Anfang an ist man auf sich alleine gestellt. Die Grenzen der eigenen Fähigkeiten sind die einzige Limitation, die man hat, wenn es um die Behandlung von Patienten geht. Was man sich zutraut und was man kann, darf man oder muss man auch machen. Dokumentation findet von Hand auf unübersichtlichen Papierbögen statt. Arbeitsmaterial wie Katheter, Infusionsnadeln, Wundversorgungsmaterial, Sterilgut oder einfach nur Decken, um die Patienten einigermassen warm zu halten, sind eine Seltenheit oder in der Unordnung nicht zu finden. Grund dafür ist zum einen Ressourcenmangel, aber grösstenteils die nicht vorhandene Arbeitsmotivation des Pflegepersonals. Kurz zusammengefasst: Der kälteste Kaltstart meines Lebens.

Das Haupteinzugsgebiet des CHBAH sind die Regionen im Süden von Johannesburg, vor allem das südlich gelegene Grosse Township Soweto (South Western Township). Die meisten Patienten sind Opfer von Gewaltdelikten. Viele der Gewaltopfer sind aber selbst genauso kriminell. Täglich gibt es zahlreiche Autounfälle und im Winter gehäuft starke Verbrennungen. Stich- und Schusswunden sind an der Tagesordnung, ebenso Opfer von Lynchjustiz oder «Mob-Assaults», wie sie auch genannt werden. Da die Polizei in den Townships nur sehr schwach aktiv ist und Verbrechen in dieser Bevölkerungsschicht nur selten verfolgt oder aufgeklärt werden, wird die «Gerechtigkeit» oft in die eignen Hände genommen. Folgen sind, dass Täter zum Opfer eines wütenden Mobs werden und an die Grenze des Todes geprügelt werden.

Während am Tag Autounfälle, Mob-Assault-Opfer und Verbrennungsopfer dominieren, werden in der Nacht vor allem Schuss- und Stichwunden versorgt. Viele Patienten sind stark alkoholisiert oder unter Einfluss von Metamphetamin oder anderen Drogen. Die Compliance ist vermindert. Patienten werden von der Polizei abgeliefert und tragen trotzdem noch immer Schuss- oder Stichwaffen auf sich, die erst im Ganzkörper Röntgenbild gesehen werden. Grund für die Gewalt ist meistens die Armut. Leute werden wegen einem in der Öffentlichkeit gezeigten Smartphone überfallen oder niedergestochen, Personen in einem banalen Streit oder einem bewaffnetem Überfall niedergeschossen. Dazu kommt Bandenkriminalität, Familien- oder Communityfehden und ein hohes Mass an häuslicher Gewalt.

Die Skurrilität der Fälle kennt keine Grenzen. Das Leben hat einen erschreckend kleinen Wert und die Hemmschwelle für Gewalt ist dementsprechend tief. Die Frustration bei den Ärzten, Schwestern, aber auch bei den Patienten ist spürbar. Jeder Tag gleicht dem anderen.  Die versorgten Wunden eines Tages verlassen das Spital, um am nächsten Tag auf dem Körper eines neuen Patienten zurückzukehren.

Wenn man täglich so tragischen Schicksalen begegnet wie auf der Traumatologie im Chris Hani Baragwanath Academic Hospital (CHBAH) in Johannesburg, Südafrika, beginnt man, ganz unbewusst, einen gewissen Zynismus zu entwickeln. Es ist eine Methode, mit den Bildern und Erfahrungen umzugehen, denen man so häufig ausgesetzt ist. Die Schwierigkeit liegt zum einen darin, die Empathie und Fürsorglichkeit für jeden Patienten zu bewahren, egal ob der Patient kriminell, alkoholisiert oder unter Drogen ist. Zum andern aber auch, trotz der Tragik bei teils sehr skurrilen Geschichten die Fassung zu bewahren und ein Schmunzeln zu unterdrücken. Die Namen der Patienten in den folgenden Geschichten sind abgeändert.

 

Familienfeier ohne Happy End

Thabisa, eine 31-jährige Patientin, wird von einer Angehörigen gebracht. Sie hat eine Rissplatzwunde unterhalb des Haaransatzes links, ungefähr 4cm lang, ein paar Millimeter tief. Stark blutende Schnittwunden in der rechten Wange, alle genug tief, um genäht werden zu müssen. Zudem eine Teilabtrennung der rechten Ohrmuschel am Vorderrand (anatomisch: Vorderrand der Crus Helix) mit Knorpelverletzung. Dazu kommen mehrere Abschürfungen und oberflächliche Schnittwunden am Dekolleté. Grund für die Verletzungen war eine Auseinandersetzung mit ihrer Schwägerin, welche der Patientin im angetrunkenen Zustand eine Weinflasche über den Kopf geschlagen hat und danach die Patientin mit den Scherben attackiert hat. Für mich eine nicht vorstellbare Geschichte, für meine südafrikanischen Kollegen Alltag.

 

Ehestreit

Auch diese Geschichte handelt von einer familiären Auseinandersetzung. Sipho, ein 38-jähriger Mann, kommt stark blutend in die Notfallaufnahme. Er ist noch nicht hämodynamisch instabil. Das heisst, sein Blutverlust ist noch nicht so hoch, dass seine Organe Gefahr laufen, nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt zu werden. Dennoch wird er in den Schockraum gefahren. Der Patient wird untersucht und die Blutungsquelle sehr schnell gefunden. Grund ist eine sehr tiefe, arteriell blutende Stichwunde am rechten Oberschenkel. Der Patient bekommt Flüssigkeitsinfusionen, ein Crossmatching (Ermittlung der Blutgruppe als Vorbereitung für potentielle Bluttransfusionen) wird durchgeführt, die Blutung wird abgedrückt und die Wunde untersucht. Er scheint Glück gehabt zu haben, denn die grosse Beinarterie, die A. femoralis, scheint nicht verletzt. Die Hauptblutung scheint muskulär und von Seitenästen der A. femoralis zu kommen. Wie ist dies passiert? Sipho wurde von seiner Frau mit einem Küchenmesser verletzt, weil er sie am Abend zuvor betrogen hatte. Während ich die Wunde versorge und den Patienten für das Gefäss CT vorbereite, um Schäden an grossen Gefässen definitiv auszuschliessen, steht seine Frau plötzliche neben mir. Sie schaut zu ihrem Mann und sagt ohne auch nur ein Zeichen von Schuldgefühl: «Here Doctor, I have his file, are you done? Can I take him back home?». Verdutzt nehme ich ihr das Patientendossier ab, verneine ihre Frage und denke mir: «Was kommt wohl als Nächstes?».

 

Von Ringen und Sägen

Die Gefängnisse in Johannesburg müssen schrecklich sein. Zum Glück stammen meine Erfahrungen darüber nur von Geschichten von Patienten. Patienten die mit Fuss- und Handfesseln von zwei Wachleuten in den Notfall gebracht wurden. Oft kamen Patienten aus dem Gefängnis im Zweier- oder Dreierpack. Einer davon hatte Verletzungen im Gesicht, Brust oder Bauch, der andere hatte gebrochene, aufgeschwollene Finger und zahlreiche Edelstahl/Eisen-Ringe, die einen Fausthieb für den Gegner gefährlicher machen, an den Fingern. Bei zu engen Ringen schwellen die Endglieder der Finger bei Verletzungen durch Einblutungen an. Durch die Engstelle kann die Schwellung nicht abfliessen. Behebt man die Engstelle nicht, verliert der Patient womöglich seine Finger. Um die Ringe zu entfernen, gibt es je nach Schwellung und Grösse der Ringe verschiedene Methoden. Die gewählte Methode im CHBAH war eine kleine Kreissäge aus dem Baumarkt. Unter gelegentlichem Kühlen mit Wasser wurde Ring für Ring durchgesägt. Doch egal wie sehr man kühlte, oft führte dieses Vorgehen zu leichten Verbrennungen der darunter liegenden Haut. Die meisten Patienten sind dennoch froh darüber, dass die Finger so gerettet werden können. Andere wiederum fragen nur, wie sie sich in Zukunft ohne Ringe verteidigen sollen.

 

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Viele der Opfer von Schusswaffen sind Resultat von Auseinandersetzungen verschiedener Clans, Gangs oder Gruppierungen. Teilweise werden ganze Gruppen von Schussopfern gleichzeitig auf die Notfallstation gebracht und manchmal ist für gewisse Opfer jede Hilfe zu spät. Sie sind schon tot bei der Ankunft. Hin und wieder werden auch unbeteiligte Drittpersonen zum Opfer schlecht trainierter Schützen. So auch Manqoba. Auf dem Weg zur Arbeit wird er von drei Kugeln getroffen, die nicht für ihn gedacht waren. Glück im Unglück, es wurden nur seine unteren Extremitäten getroffen. Zwei Durchschüsse durch die linke Wade und oberhalb des linken Knies. Die dritte Kugel wurde in seinem rechten Unterschenkel durch den Schienbeinknochen gestoppt. Im Röntgenbild zeigen sich durch den Aufprall der Kugel Zeichen eines Knochenbruchs. Die Wunden werden gereinigt, Blutungen gestillt und unter kontrollierten Bedingungen wird die verbleibende Kugel geborgen. Dabei dürfen in der Theorie keine metallenen Instrumente verwendet werden, da die dadurch entstehenden Kratzspuren die Analyse der Kugel verfälschen könnte. Da aber keine Alternativen bestehen, werden trotzdem metallene Instrumente oder halt die eigenen Finger verwendet. Letzteres wird aber wegen Selbstverletzungsgefahr und einer hohen HIV-positiv-Quote eher vermieden. Während ich die Kugel auf der Notfallstation entferne, erzählt mir der Patient, was passierte. Voller Frustration über die kriminelle Situation im eigenen Land. Voller Frustration darüber, dass es keine Behörde interessiert, dass er heute angeschossen wurde. Darüber, dass es praktische keine Möglichkeit gibt, die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Und er hat Recht. Denn auch die entfernte Kugel interessiert niemanden. Sie landet in einem Becher, der zu all den anderen Kugeln im Notfallsaal gestellt wird, darauf wartend, dass sich irgendjemand dafür interessiert.

All diese Geschichten sind verschieden, doch im Kernpunkt sind alle gleich. Sie erzählen von einer unvorstellbar hohen Gewaltbereitschaft. Von einer geringen, beinahe nicht vorhandenen Wertschätzung für das Leben und die Gesundheit eines Verwandten, Partners oder Fremden. Dieser Umgang mit Gewalt, lässt einen als Mitarbeiter auf der Traumatologie manchmal einfach nur eine Ohnmacht und Erschöpfung spüren, die tagtäglich von neuem gefüttert wird.

Robin van den Wildenberg

Student Humanmedizin
Medizinischer Content-Provider (MED4LIFE)

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